«Die Lehrermappe»

Von meinem Balkon aus habe ich eine schöne Aussicht aufs Oltner Froheimschulhaus. Ich schaue den Lehrern beim Unterrichten zu, und sie schauen mir beim Schreiben zu. Ab und zu macht einer zum Spass ein Paparazzo-Bild von mir und legt es mir dann in den Briefkasten.

Ich mache keine Fotos von den Lehrern, dafür weiss ich so dies und jenes über sie - zum Beispiel, dass einer, der diesen Sommer in Pension geht, seit vierzig Jahren ein und dieselbe braune Ledermappe zur Schule trägt; eine sehr schöne alte Lehrermappe, vom Alter und täglichen Gebrauch geadelt. Immer die gleiche, treue Mappe in vierzig Jahren, an rund 200 Schultagen pro Jahr und vier Schulwegen täglich - macht rund 32’000 Schulwege. Die Mappe und der Lehrer haben gemeinsam mindestens anderthalb Mal die Erde umrundet.

Von diesem Lehrer nun weiss ich, dass er vor vielen Jahren einen Schüler beleidigte, indem er ihm wegen seines Leibesumfangs den Übernamen «Mütschli» verlieh. In der Zwischenzeit ist das Mütschli zu einem athletischen Mann von Anfang dreissig herangewachsen. Er arbeitet bei der städtischen Müllabfuhr und wird für seinen Einsatz allseits respektiert. Aber den Spitznamen hat er nie vergessen. Und als er dem Lehrer einmal auf der Strasse begegnete, sagte er ihm das.

Der Lehrer hatte eine Idee, daswieder gut zu machen: Am Tag der Pensionierung würde er dem Schüler seine treue alte Lehrermappe, die ihn 40 Jahre lang begleitet hatte, überreichen. Und dieser würde sie zwecks Sühne mit Schwung und Karacho auf Nimmerwiedersehen in den offenen Schlund des Müllwagens werfen.

Am ersten Freitag im Juli ist essoweit, dann schlägt der Mappe letztes Stündlein. Ich werde auf meinem Balkon sitzen und allesbeobachten. Eines übrigens sollte der Schüler noch wissen: Der Lehrer plant, die Mappe als Letztes mit ofenfrischen Mütschli zu füllen.

Alex Capus

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