«Frühling in Yarmuk»
Die neue Art des Fernsehens sei praktisch, erklärte mir ein Bekannter. Er schaue die Tagesschau jeweils zeitversetzt und könne dadurch überspringen, was er nicht sehen wolle. Das ganze Syrien-Zeugs hänge ihm zum Hals raus, immer das Gleiche, fasste er prägnant seine Abneigung während der abendlichen Informationsvermittlung zusammen. Seine Einstellung zeigt: Die Menscheninteressieren sich vor allem für das, was vor ihrem Miststock passiert, wie Journalisten bisweilen zu sagen pflegen.
Auch ich möchte wissen, was in und um Olten die Menschenbewegt. Da gab es neulich einen Zeitungsartikel über die Hundekot-Problematik im Oltner Schöngrundquartier und ich habe erfahren, dass sich zwei Nachbarn wegen eines Parkplatzes in den Haaren liegen. Auch entdeckte ich Bild und Text einer Dorfbach-Putzaktion und einen langen Text über eine 12-Jährige, die im Final einer Fernseh-Castingshow steht. Was das alles mit Syrien zu tun hat? Gar nichts und sehr viel. Es zeigt zunächst einmal unsere Wahrnehmung der Welt.
Und in diesen herrlichen Frühlingstagen, wenn ich durch das zarte Grün des Bannwalds gehe, wenn es nach dem Harz frisch geschlagener Bäume duftet und wenn sich die ersten Schlüssel- blümchen zeigen, wird mir einmal mehr bewusst, dass ich einst riesiges Glück hatte. Denn das Glück gehört nicht nur den Tüchtigen, es wird oft zufällig verteilt. So war es nicht egal, ob ich in Olten auf die Welt gekommen bin oder in Bhopal, Gaza oder Mogadischu. Und wenn mich die Vögel frühmorgens mit ihrem Gesang wecken, frage ich mich manchmal, was die kleinen Ohren der kleinen Kinder imbelagerten syrischen Flüchtlingslager Yarmuk bei Damaskus jetzt wohl hören.
