«Brexit und wir»

Irène Dietschi, Journalistin.
Irène Dietschi, Journalistin.

«48 In, 52 Out», liest mein Gatte mit versteinertem Gesicht vom Bildschirm ab. Es ist Freitag um halb sieben, am Morgen nach dem Brexit. Unsere Familie ist im Schockzustand. Ähnlich wie am 9. Februar 2014, als die Schweiz der Einwanderungsinitiative zustimmte. «Sind die eigentlich bescheuert!», entfährt es der Mittleren, als sie sich zum Frühstück hinsetzt. Und die Jüngste meint kopfschüttelnd: «Die spinnen, die Briten.» Später, als ich im Büro am Schreibtisch sitze, bringe ich nichts Produktives zustande. Vor meinem Fenster ist alles wie immer: Fussgänger und Velofahrerinnen bevölkern die Kirchgasse, die Tische beim «Gryffe» füllen sich allmählich mit Gästen. Mich aber beschäftigt unablässig die eine Frage: Ist Europa jetzt tot? Und warum betrifft mich das? Gewiss, ich habe einen Schweizer Pass – aber meine Vorfahren mütterlicherseits kamen aus Sachsen. Mein Gatte stammt aus Nordrhein-Westfalen, unsere Kinder sind Doppel- und somit EU-Bürger. Europa sehe ich zuallererst als grossartiges Friedensprojekt, das Wohlstand und Chancen erzeugt. Etwa die Möglichkeit, sich überall niederzulassen, Arbeit zu suchen und sein Wissen zu mehren. All dies gefährdet der Brexit. Beschämend: Es waren die Stimmen der Alten, welche das Out bewirkten – so wie in der Schweiz bei der Einwanderungsinitiative der SVP. Immerhin hat hierzulande der Schock damals viele junge Leute politisiert. Die «Operation Libero» etwa zieht – erfolgreich, wie man inzwischen weiss – gegen die Abschottung der Schweiz ins Feld und verortet unser Land selbstbewusst als Teil Europas. «Ich glaube», sage ich ein paar Tage nach dem Brexit zu meinen Kindern, «das Establishment kann Grossbritannien nicht retten. Sondern nur die Jugend.»

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