Zielemp ade

Irène Dietschi, Journalistin.
Irène Dietschi, Journalistin.

«Weisst du noch», sagt meine Mutter, «als die Kleine ihr Zähnchen verlor?» «Nein, erzähl», antworte ich. Meine Mutter und ich schwelgen in Erinnerungen an die Oltner Jugendbibliothek. Ungezählte Male hat sie als stolze Grossmutter mit ihren drei Enkelkindern die Märchenstunde an der Zielempgasse besucht. An jenem Tag, als der Jüngsten ein Milchzahn ausfiel, änderte die Märchentante flugs das Programm und erzählte Geschichten von der Zahnfee. Unsere Kinder entdeckten am Zielemp die Liebe zum Lesen – genauso wie schon ich als Heranwachsende.
Ich konnte dort stundenlang am Fenster sitzen, auf die Aare hinausschauen und mich von einer Geschichte forttragen lassen. Johanna Spyri und die drei Fragezeichen, Karl May ohne Ende, Tausendundeine Nacht.

Doch jetzt ist das Haus verkauft und die Jugendbibliothek weg! Umplatziert ins Stadthaus, Eingang Dornacherstrasse. Von Wehmut und Neugierde getrieben, habe ich mir am Samstag die neuen Räume angeschaut – und war überrascht. Es widerstrebt mir fast, es zuzugeben, doch die «neue» Jugendbibliothek ist eindeutig schöner: hell und offen, alles auf einer Ebene und mit mehr Platz, für Bücher ebenso wie für Lesungen. Verschwunden ist der beengende Zielemp-Groove, wo man eine schwere Holztür, einen dunklen Vorraum und eine steile Treppe überwinden musste, bevor man in der Bibliothek war. Am neuen Ort gibt eine grosse Fensterfront, die Rita Weder und Amadeus Gmür mit dezenten Piktogrammen liebevoll gestaltet haben, den Blick ins Innere frei.

«Ich glaube, manchmal muss man sich von alten Bildern verabschieden und Erinnerungen ziehen lassen», sage ich zu meiner Mutter. «Stimmt», antwortet sie. «Genau wie Kinder, wenn sie flügge werden.»

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