«Der Nase nach»
Uns kommt die Welt abhanden, die Welt an sich. Fast unmerklich verändert sich unser Empfinden. Die Füsse spüren den Boden nicht mehr, alles ist abgefedert, luft-, gel- oder schaumgummigedämpft. Die Zunge kennt nur noch süss oder salzig, ist etwas aber bitter, werden wir sauer. Die Ohren sind zugestöpselt und dauerberieselt. Wir muten ihnen die Umwelt nicht mehr zu - den Verkehr, das Vogelgezwitscher, die Stimme des Nächsten. Die Augen sehen nicht mehr, was da wirklich ist. Immer schieben wir eine Kamera dazwischen, machen eine Kopie dessen, was wir im Original haben könnten. Später schauen wir sie dann an, die Kopie, und nehmen sie als Beleg eines glücklichen Lebens. Und unser Geist regt sich nicht mehr auf, er erfährt nur noch, was ihm ohnehin gefällt. Leben in der Filterblase. Zum Glück gibt es die Nase, der wir noch alles zumuten. Ihr ist die Welt noch Welt, ist Fischgestank und Jasminduft. Wenn der Wind dreht, gibt es Biskuit oder Schokolade. Unter dem Silo an der Stationsstrasse riecht es süsslich, im Lift des Bahnhofs nach kaltem Rauch und Pisse. In den Kirchen vom Niederamt bis ins Gäu hängen Tausende von erloschenen Kerzen in der Luft. Die Badi empfängt uns mit Chlor, Sonnencrème und Fritieröl. Jedes Schulhaus hat seinen eigenen Duft: eine Mischung aus Bodenbelag und Putzmittel, die uns ein Leben lang an die Kindheit erinnert. Durch die Strassen schlendern, immer der Nase nach. Unsere Freunde mögen wir auch, weil wir sie gerne riechen, bei anderen gehen wir auf Distanz. Wieso muss der Sitznachbar im Zug schon am Morgen dem Knoblauch huldigen? Die Nase bringt uns ins Grübeln, sie lässt uns stocken und vor Glück fast den Verstand verlieren. Ein Hoch auf diesen Erker mitten im Gesicht!