Homo ludens
«Warst du Hitler?», frage ich die Mittlere beim Zmorge. «Nein», antwortet sie schlaftrunken, «zweimal Liberale und einmal Faschistin.» «Aha», antworte ich und nehme einen Schluck Kaffee. Es ist Donnerstagmorgen um halb sieben, eine gefühlte Ewigkeit bis zum Wochenende. «Und wer war denn Hitler?», frage ich weiter. Die Mittlere gähnt. «Einer von den Simons», ist ihr schliesslich zu entlocken. Ihre Augen stehen auf halbmast. Zugegeben: Ich habe mich daran gewöhnen müssen, dass sich unsere ältere Tochter mit ihren Verbündeten der pfiffigen linken Jungpartei (nicht derjenigen mit dem «Jetzt»-Anspruch – der anderen) regelmässig trifft, um ein Spiel namens «Secret Hitler» zu spielen. Es ist ein sogenanntes Deduktionsspiel, das pfiffige Jungs in den USA entwickelt haben. Es geht darum, eine Rolle einzunehmen: Man ist Liberaler oder Faschist. Ein Spieler bekommt die Secret-Hitler-Karte. Und dann spielt man um die Macht. Meine Generation hätte sich so was nie getraut. Unsereins hat sich verbissen am Gegner abgearbeitet, mit den besseren Argumenten, klar, aber ernsthaft, hart auf hart, Zahn um Zahn. Die Jungen machen das anders: Spielend betreten sie das gegnerische Terrain. Spielerisch, mit Charme und Spott lassen sie die «Opposition» an sich abtropfen wie Wasser an Teflon - und ins Leere laufen. Im Spiel, sagt der Topos des «Homo ludens», entwickelt und optimiert der Mensch seine Fähigkeiten am besten. Spielend haben diese Jungen Sitze im Parlament erobert – jetzt gilt es Ernst. «Sag», frage ich die Mittlere, «glaubst du, eure Truppe wird es packen? Im Gemeinde- und Kantonsrat?» «Mama!», erwidert sie – schlagartig wach, mit Blitzen in den grossen, grau-blauen Augen. Und ich fühle mich uralt.