Oben ohne

<em>Irène Dietschi</em>, Journalistin.
<em>Irène Dietschi</em>, Journalistin.

«Sag mal, wie war das damals eigentlich?» fragt mich die Jüngste. Sie liest einen Artikel über 1968 (kaum zu glauben, dass das 50 Jahre her ist!), «Love Love Love» steht da in grossen Lettern, «Kommune 1» oder «Globus-Krawalle». Ich kann mich nicht an diese Ereignisse erinnern, ich war damals erst vier. Und doch hat 1968 meine Jugend stark beeinflusst. Wir 60-er Kinder sind ganz anders aufgewachsen als unsere Eltern – oder unser eigener Nachwuchs. «Weisst du», antworte ich der Jüngsten, «an der Kanti haben wir manche Lehrer geduzt, und am Strand haben die Frauen oben ohne gebadet.» Meine Tochter schnappt nach Luft. «Oben ohne? Du auch?»

Ich versuche zu erklären: 1968 verbannten politisierte Frauen den Büstenhalter. Denn der BH stand für körperliche Bevormundung, für Einengung. Sich seiner zu entledigen hiess, sich zu emanzipieren. Für die eigene, weibliche Lust und Körperlichkeit einzustehen. «Ja, auch wir Teenie-Mädchen in den 70ern haben unseren Busen entblösst – je nach ‹Modell› mehr oder weniger selbstbewusst», gebe ich zu. «Sogar in der Oltner Badi wurde das geduldet».

Die Jüngste verdreht die Augen. Ich verstehe sie: Heute gäbe es in der Badi einen Aufschrei, würde ein weibliches Wesen sich «oben ohne» präsentieren. Selbst kleine Mädchen müssen ein Oberteil tragen (und die Buben enge Badehosen – warum auch immer). Ausserdem debattieren politisch bewusste Frauen heute um andere Inhalte, siehe #MeToo: Heute geht es um Gewalt- freiheit, um weibliche Solidarität und um das Streben nach Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern.

Da fällt mein Blick wieder auf die «Love Love Love»-Schlagzeile der Jubiläumspostille. Wir waren wenigstens nicht prüde, denke ich vergnügt.

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