«Ich schraubte meine Erwartungen immer weiter nach unten»

Unvergessen Grünen-Nationalrat Felix Wettstein aus Olten erlebte am vergangenen 22. Oktober ein wahres Wechselbad der Gefühle. Erst zum nationalen Gesicht der Wahlniederlage der Grünen Partei stilisiert, durfte er sich wenig später emotional über seine Wiederwahl ins Bundesparlament freuen.

Grenzenlose Freude: Die Reaktion von Felix Wettstein, als er erfährt, dass er die Wahl doch noch geschafft hat. (Bild: Bruno Kissling)

Als Sohn eines Modellschreiners und einer Hausfrau wuchs Felix Wettstein zuerst in Kriens, später in der Region Baden auf. Der 1958 geborene Politiker ist das älteste von fünf Geschwistern. Schon früh engagierte er sich in der ehrenamtlichen Jugendarbeit, in der Jungwacht. Mit 20 legte er an der Kanti Baden die Maturaprüfung ab und nahm kurz darauf ein Studium in Pädagogik, Geografie und Volkskunde an der Universität Zürich in Angriff. 1984 schloss er dieses mit dem Lizentiat ab. Bis zu seiner Pensionierung 2023 arbeitete der Erwachsenenbildner die letzten 23 Jahre als Dozent für Gesundheitsförderung und Prävention an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Zwischen 2007 und 2021 sass er für die Grünen im Oltner Gemeindeparlament, zwischen 2010 und 2019 auch im Kantonsrat. Zuvor hatte er an verschiedenen Orten in zahlreichen Kommissionen mitgewirkt. Den Grünen beigetreten war er wenige Jahre nach der nationalen Parteigründung 1983. Seit 1995 wohnt Wettstein in Olten. Er ist verheiratet. Am 22. Oktober 2023 wurde Wettstein als erster Solothurner Vertreter der Grünen überhaupt als Nationalrat wiedergewählt – unter aufwühlenden Umständen.

 

«Ich wusste im Vorfeld, dass die Wiederwahl sehr schwierig werden dürfte. Und mit mir wusste das die gesamte Grüne Partei. Wir wussten, dass wir nur eine Chance haben würden, den Sitz im Kanton Solothurn zu verteidigen, wenn wir wirklich Gas geben. Und zwar als Mannschaft. Das klingt zwar abgedroschen, ist aber einfach wahr! Wenn die Liste als Ganzes nicht genug Stimmen erzielt, kann ich als Einzelperson ein noch so gutes Resultat erzielen – der Sitz wäre verloren. Das war ein durchaus realistisches Szenario. 1995 wurde Marguerite Misteli als Nationalrätin nicht wiedergewählt, 2011 ereilte Brigit Wyss dasselbe Schicksal. Zweimal waren die Grünen durch eine Frau aus der Stadt Solothurn im Nationalrat vertreten. Nach vier Jahren erzielten sie das persönlich bessere Resultat als bei ihrer ersten Wahl, aber die Liste schaffte nicht genügend Stimmen, um den Sitz halten zu können.

Die nationalen Prognosen im Vorfeld des Wahltages deuteten ja darauf hin, dass die Grünen würden Federn lassen müssen. Tatsächlich krebste unsere Partei dann schweizweit um 3,4 Prozentpunkte zurück, wir im Kanton Solothurn allerdings ‹nur› um 2,1 Punkte. Ich deute das so, dass wir im Kanton Solothurn dank guter Listen und viel Einsatz dem nationalen Trend etwas entgegensetzen konnten. Die Wahlkampfphase habe ich als sehr positiv in Erinnerung, auch stimmungsmässig. Ich nahm an vielen Anlässen teil, war an vielen Orten und Anlässen. Alles ergänzte sich zeitlich wunderbar. Mit Lukas Lütolf hatten wir auch einen ausgezeichneten Kampagnenleiter. Unsere Wahlkoordinationsgruppe zog dann im Nachhinein auch das Fazit, dass wir nichts Wesentliches falsch gemacht hatten.

Am Vormittag des 22. Oktober hatte ich nicht den Eindruck, in anderer Stimmung zu sein als bei früheren Wahlsonntagen. Um zehn Uhr habe ich mir die Radiosendung ‹Persönlich› angehört. Denn an diesem Tag war Marguerite Misteli Gast im ‹Persönlich›, die erste Grünen-Nationalrätin des Kantons. Um Punkt 12 Uhr machte ich am Bahnhof Olten ein Erinnerungsfoto. Zwei Minuten später fuhr der Zug nach Solothurn ab. Am Bahnhof Olten hatte ich mich mit einer Redaktorin getroffen, die mich an jenem Tag fürs Oltner Tagblatt journalistisch begleitete. Ich sagte ihr während der Zugfahrt, dass ich der Meinung sei, im Wahlkampf das Maximum gegeben zu haben. Wie es am Wahlsonntag auch herauskommen würde, wir Solothurner Grünen würden uns auch danach in die Augen schauen können. Auch hatten wir im Kanton so viel Geld ausgegeben wie nie zuvor – aber immer noch deutlich weniger als andere Parteien.

Die Grünen trafen sich am 22. Oktober im ‹Kreuz› in Solothurn. Zuerst stattete ich der Partei einen Besuch ab. Nach rund einer Stunde wechselte ich hinüber ins kantonale Medienzentrum, wo immer mehr Resultate aus ausgezählten Gemeinden eintrafen. Wahrscheinlich erlebte ich nie zuvor ein derartiges Wechselbad der Gefühle wie an jenem Nachmittag. Als rund 60, 70 der total 107 Gemeinden des Kantons ausgezählt waren, machte die Meldung die Runde, Wettstein werde abgewählt, die Grünen dürften ihren Sitz verlieren. Bereits im ‹Kreuz› hatte ich zu meinen Leuten gesagt: ‹Gemach, gemach, lasst euch nicht ins Bockshorn jagen. Es wird auf die grösseren Städte ankommen, wir müssen bis zum Endergebnis warten.› Ich sagte das nicht einfach nur aus Zweckoptimismus, sondern weil das frühere Wahlen gezeigt hatten.

Aber der ganze Nachmittag fühlte sich für mich schon völlig anders an als vier Jahre zuvor. Je mehr Gemeinden ausgezählt wurden, desto schlechter sah es für uns aus. Zudem war man im Vorfeld stets davon ausgegangen, dass mein Sitz im Fall des Verlustes zur SP abwandern würde. Genau das wäre aber nicht eingetreten, er wäre an den Mitte-Politiker Edgar Kupper gegangen, der auf deren Hauptliste hinter Stefan Müller-Altermatt das zweitbeste Resultat erzielte. Der Umstand, dass der Sitz dem links-grünen Lager verloren gehen könnte, beschäftigte mich mindestens so sehr wie die Befürchtung, dass ich ihn verlieren könnte. Auch nach 106 von 107 Gemeinden sah es nach diesem Szenario aus. Ich schraubte meine Erwartungen im Laufe des Nachmittages immer weiter nach unten. Nie ganz auf null. Aber sehr weit nach unten…

Zwischen der Bekanntgabe der Resultate der zweitletzten und der letzten Gemeinde, der Stadt Solothurn, dauerte es mehr als eine halbe Stunde. Diese halbe Stunde empfand ich als lange. Anderen ging es sicher genauso. Und in dieser Zeit – ich habe das erst ein wenig später erfahren – wurde im Newsticker des SRF die Meldung verbreitet, ich sei nicht mehr gewählt. In der ganzen Schweiz wurde der Wettstein als Gesicht der grünen Niederlage gezeigt! Selber hatte ich das gar nicht gesehen. Aber ich bekam in jenen Minuten SMS mit Botschaften wie ‹so bedauerlich›, ‹schade›, ‹das ist unverdient›. Ich sah diese Meldungen und dachte mir: Mir ist schon klar, dass ich mir nicht mehr allzu grosse Hoffnungen machen darf. Aber bitte, noch ist es nicht zu Ende! Man muss Geduld haben an einem Wahlsonntag – wir, die Kandidierenden, aber auch alle anderen.

Kurz vor 16 Uhr gab Andrea Affolter, Mediensprecherin des Kantons Solothurn, bekannt: ‹Die Stadt Solothurn ist ausgezählt.› Und unmittelbar darauf hörte ich neben mir die Worte: ‹Und du bist gewählt.› Das war ein emotionaler Moment. In meinem Innersten drehte sich innert Kürze alles. Später am Abend zeigten mir Parteifreunde im Restaurant Kreuz Bilder von ihrer Reaktion, als meine Wahl bekannt wurde. Da flippten einige aus – eben auch, weil sie nicht mehr damit rechnen konnten.

Ein paar Tage danach erhielt ich eine Entschuldigungsmail von Meinungsforscher Lukas Golder. Darin erklärte er, dass sie sich bei der falschen Prognose auch auf Journalisten von Regionalmedien abgestützt hätten, die unisono gemeint hätten, dass der Sitz der Grünen verloren gehen würde. Und da ihre eigenen Hochrechnungen dieses Szenario bestätigt hätten, sei es dazu gekommen, dass ich im TV als abgewählt vermeldet wurde. Ich habe klare Erwartungen an die Meinungsforschung und die Medien. An einem Wahlsonntag ist die Medienwelt derart getrieben, um möglichst rasch Geschichten zu erzählen, dass sie die Geduld, die uns Politikern abverlangt wird, offenbar nicht aufbringt. Da bin ich schon der Meinung, dass einige über die Bücher müssen. Es müssen Lehren gezogen werden!»

 

Felix Wettstein hat Anfang Dezember seine zweite Legislaturperiode im Bundesparlament angetreten. Der Grünen-Politiker ist Mitglied der Finanz- und der Redaktionskommission des Nationalrates. Vor kurzem konnte er seinen 66. Geburtstag feiern.

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