Vom Strassentheater zum Schattenspiel

Anja Wahl hat das Schattenspiel zu ihrer Kunstform entwickelt. (Bild: Caspar Reimer)
Im Gespräch Die Oltnerin Anja Wahl liebt Theater und das Erzählen von Geschichten. Mit Schattentheater vereint sie beides in konzentrierter Form zu einem Ganzen.
Von: Caspar Reimer
Es ist eine bunte Oase, die einen empfängt, wenn man das Zuhause von Anja Wahl betritt: Der Eingangsbereich in fröhlichem Gelb gestrichen, das Sofa im Wohnzimmer mit Tüchern und Kissen aller Farben der Welt belegt, und an den Wänden hängen Bilder in warmes Sonnenlicht getauchter Landschaften. Wer vermutet, dass in diesem Haus Künstlerinnen und Künstler zuhause sind, liegt nicht falsch, denn Anja Wahl ist Theatermacherin und Geschichtenerzählerin, wobei die Liebe für Geschichten den Ausschlag gab, sich dem Theater zuzuwenden: «Als Kind schrieb ich in ein Schulheft, dass ich später gerne Geschichten erzählen und verbreiten möchte. So entwickelte ich die Vorstellung, diesen Wunsch im Theater zu verwirklichen, dort meine Geschichten zu erzählen», sagt sie.
Der Weg zum Glück
So bunt ihr Daheim, so vielfältig scheint auch der bisherige Lebensweg der jetzt 48-Jährigen: Anja Wahl ist zwar gebürtige Dullikerin, jedoch in der Toskana aufgewachsen. «Meine Eltern waren Anti-AKW-Aktivisten. Sie wollten mit der Familie in ein Land ziehen, in dem es keine Atomkraftwerke gab. Italien bot sich an, weshalb wir auf einen Bauernhof in der Toskana zogen.» Schon als Kind besuchte sie – ausgehend von ihrem Wunsch, Geschichten zu erzählen – Theaterkurse, liess sich jedoch später zur Lehrerin ausbilden, gründete eine Kinderkrippe und betätigte sich noch in anderen Bereichen. Die Energie und Unternehmungslust, die Anja Wahl heute ausstrahlt, scheint sie schon seit jungen Jahren zu begleiten, was es nicht ganz einfach macht, ihr Leben an einem Faden festzumachen. Darum wissend sagt sie: «Wenn ich erzähle, was ich bisher alles gemacht habe, klingt das vielleicht zerstückelt, dabei gibt es eine Konstante, nämlich die Leidenschaft für Geschichten und das Theater.»
Schon in Italien spielte sie noch als jugendliche Frau Strassentheater, gab Theaterlektionen, reiste mit Freunden durch Europa, um Strassentheater aufzuführen. Sie folgte auch der Idee, eine Schauspielschule zu besuchen, doch dieses Vorhaben scheiterte: «14-mal hatte ich an Hochschulen in ganz Europa, so auch in Wien oder Zürich, vorgespielt, doch es hat nicht geklappt.» Wenn von 1000 Bewerberinnen und Bewerbern einer aufgenommen werde, brauche es neben dem Können auch grosses Glück: «Der richtige Moment, der richtige Ort, die passende Ausstrahlung.» Doch die Leidenschaft für die Schauspielkunst liess sich Anja Wahl nicht nehmen: In ihren letzten Jahren in Italien nahm sie an Strassenartistenfestivals teil, wobei sie dort zusammen mit Kindern interaktiv eine Geschichte entwickelte, die sie später im Jahr 2021 als Bilderbuch unter dem Titel «Die Glückstorte» veröffentlichen sollte. «Die Geschichte versucht zu erklären, was Glück ist und wie man dazu kommt.» Im Zentrum steht ein Elf, der einen glücksbringenden Kuchen backen möchte. «Auf der Suche nach Zutaten betritt er verschiedene Welten und bekommt dort jeweils geistige Zutaten wie Musik oder Licht mit auf den Weg.» Auch in ihrem Leben scheint die Suche nach Glück, nach Verwirklichung eine Rolle zu spielen, wobei Glück – und so ist das Fazit der Geschichte – nur gemeinsam mit anderen Menschen lebbar sei.
Im Jahr 2004 zog Anja Wahl als 30-Jährige der Liebe und Familienpläne wegen zurück in die Schweiz in das dreigeschossige Haus in unmittelbarer Nachbarschaft zur Oltner Friedenskirche, wo sie jetzt mit ihren drei Kindern – zwei Mädchen, ein Junge – und ihrem Mann, mit dem sie nur noch freundschaftlich, nicht über eine Liebesbeziehung verbunden ist, lebt. Die kreative Ader hat sie teilweise an ihre Kinder weitergegeben – so stammt das Bild mit einer rötlichen Abendlandschaft, das die Stube verziert, von einer ihrer beiden Töchter.
Figuren aus dem Kopf
Ihr Schaffen hat Anja Wahl um die Form des Schattentheaters weiterentwickelt: Dieses Handwerk, bei welchem Figuren – in ihrem Fall aus dicken Papier – zwischen einer Lichtquelle und einer Leinwand von Menschenhand bewegt werden, wodurch für die Zuschauerinnen und Zuschauer Schatten zu sehen sind, beherrscht sie ausgezeichnet: «Es geht um den Effekt, nicht um die Qualität des Materials», sagt sie, während sie die Mappe mit den Schattenfiguren hervorholt, um sie zu zeigen. «Die Glückstorte» hatte Anja Wahl am Kirchenklangfest Cantars Kids & Teens 2021 anlässlich der Erscheinung des Buches auf diese Weise aufgeführt.
Ein weiteres, auf einer anderen Geschichte beruhendes Schattenspiel ist am 2. Juni dieses Jahres im Rahmen der Langen Nacht der Kirche zu sehen, wobei genauere Details noch nicht bekannt sind. «Für diese Aufführung muss ich noch neue Figuren basteln.» Die Theatermacherin zeichnet ihre Formen nicht auf, bevor sie sie ausschneidet, sondern macht dies quasi frei aus dem Kopf – so hat sie innert Sekunden eine Katze aus einem Papierbogen extrahiert.
Berufliche Weiterentwicklung
Wahl arbeitet jetzt – neben anderen Engagements – als Kindergartenlehrperson in Trimbach. Und im Sommer startet sie eine Ausbildung zur Figurenspieltherapeutin, einer therapeutisch orientierten Spiel-, Ausdrucks- und Kunsttherapieform. «Dabei kann ich die Arbeit mit Kindern um das Erzählen von Geschichten und das Figurentheater bereichern.»
Hört man Anja Wahl zu, könnte man geneigt sein zu fragen, ob es eigentlich etwas gibt, das sie nicht tut oder tat, denn die Liste ihrer Tätigkeiten reicht von Malen über Reiten und Singen bis zur Arbeit mit Holz. Sicherlich gäbe es Dinge, die Anja Wahl nicht tun würde, aber die Lust, immer wieder Neues zu entdecken, scheint ungebrochen: «Jetzt habe ich sogar angefangen, Billard zu spielen», sagt sie lachend.
...und ausserdem
Diese Person möchte ich gerne mal treffen
Claude Monet. Ich würde gerne mit ihm über seine Kunst sprechen.
So entspanne ich mich am besten
An der frischen Luft beim Wandern. Besonders gerne gehe ich auf die Belchenflue.
Dieses Verhalten ärgert mich
Wenn Menschen oder Institutionen etwas predigen, aber es selbst ganz anders machen.