Die Stehauffrau mag nicht mehr

Doris Schweizer verbringt auch nach dem Rücktritt bis zu 20 Stunden pro Woche auf dem Rad. (Bild: Achim Günter)
Was macht eigentlich? Sie zählte jahrelang zu den stärksten Schweizer Velofahrerinnen, wurde mehrfach Schweizer Meisterin und holte einmal WM-Bronze. Im vergangenen Sommer beendete die Hägendörferin Doris Schweizer ihre Karriere still und leise.
Von: Achim Günter
Irgendwann war einfach Schluss. Ohne Brimborium, ohne öffentliche Bekanntmachung. Die Radsportkarriere der Doris Schweizer endete still und heimlich. Im Hochsommer 2022 war das, einige Wochen früher als geplant. Und sicher nicht so, wie sie es sich gewünscht hätte.
Dass die Hägendörferin, die nun in Wangen wohnt, ihre Karriere nach der Saison 2022 beenden würde, hatte sich schon länger abgezeichnet. Nach schweren Verletzungen hatte sie gespürt, dass sie nicht mehr bereit war, das allerletzte Risiko einzugehen. Und fehlen diese paar Prozentpunkte, wird aus einer Spitzenfahrerin eben schnell eine aus der breiten Masse. Eine Mitfahrerin aber wollte die damals 32-Jährige nicht sein – schon gar nicht im fortgeschritteneren Sportleralter. Sie, die mehrere Schweizer Meistertitel erkämpft hat und als grössten Erfolg die WM-Bronzemedaille im Teamzeitfahren 2014 bezeichnet. «2013/14 war für mich ohnehin die beste Zeit. Mit dem damaligen Team haben wir viel erreicht.» Auch der Etappensieg und das Leadertrikot bei der Tour de Bretagne fällt in jene Zeit. Den Grossteil der Karriere über betrachtete sich Doris Schweizer als Edelhelferin.
Ein verlorenes Velo als letzter Auslöser
Die Geschichte, wieso es zum verfrühten Rücktritt kam, passt zu einer Sportlerin, die in der zweiten Hälfte ihrer Karriere mit vielen Rückschlägen und Hindernissen zu kämpfen hatte. «Die Airline, mit der ich aus den USA in die Schweiz zurückflog, verlor mein Velo. Und danach zog sich das ewig hin», erklärt sie. Ihr zweites Velo mochte ihr das kanadische Team, für das sie 2022 fuhr, aus finanziellen Gründen nicht in die Schweiz schicken. Und ein zusätzliches Fahrrad liess sich aufgrund der Lieferengpässe infolge Corona nicht innert nützlicher Frist auftreiben. Den Saisonhöhepunkt Schweizer Meisterschaft und weitere Rennen im Frühsommer musste sie deshalb sausen lassen. «Irgendwann fand ich: Es macht keinen Sinn mehr.» Im August zog sie einen Schlussstrich. Später kam das Velo übrigens wieder zum Vorschein – zerbrochen in zwei Teile.
Auch die Beziehung mit ihrem letzten Team gestaltete sich nach gutem Start zunehmend schwierig. Immer öfter, berichtet sie, seien Rennpläne kurzfristig über den Haufen geworfen worden. Dabei sollte doch 2022 alles nochmals besser werden, nachdem in den beiden Jahren zuvor wegen der Pandemie der Rennkalender der Frauen enorm ausgedünnt worden war. Denn ursprünglich hatte Schweizer bereits Ende 2020 zurücktreten wollen. Nach einer Saison ohne Rennen wollte sie aber nicht abtreten. Als sie 2021 immerhin wieder ein grosses Rennen bestreiten konnte, brach sie sich den Ellenbogen. «Das war ein weiterer Anhaltspunkt für mich, dass ich den Profiradsport nicht mehr unbedingt brauchte.»
Sie sagt nicht zufällig «ein weiterer Anhaltspunkt». 2017 hatte sie einen kompletten Zusammenbruch erlitten – physisch und psychisch lag sie am Boden. Es war die Spätfolge einer Geschichte gewesen, die ihren Anfang in ihrem Annus horribilis 2015 genommen hatte. In jener Saison, berichtet sie, habe sie beim Schweizer Rennstall Bigla unter dem damaligen Teammanager zum Beispiel mit 40 Grad Fieber Rennen bestreiten müssen. Und schliesslich stürzte sie bei der dritten Etappe des Giro d’Italia derart unglücklich, dass sie sich eine schwere Hirnerschütterung zuzog. Der Teammanager zwang sie aber weiterzufahren – «obwohl ich die Distanzen nicht mehr einschätzen und nicht mal mehr richtig geradeausfahren konnte». Erst auf Intervention des Teamarztes hin durfte sie am übernächsten Tag endlich die Heimreise antreten. Der Fall warf damals hohe Wellen, war sogar Thema in der Ethikkommission des internationalen Radsportverbandes.
2015 trennte sich der nationale Verband zudem vom damaligen Nationaltrainer – ein Entscheid, den Schweizer überhaupt nicht goutierte. Seither sei sie mit «Swiss Cycling absolut auf Kriegsfuss» gestanden. Im Folgejahr wollte es Schweizer sich und dem Rest der Welt erst recht beweisen. Sie trainierte sehr intensiv und stand gleichzeitig psychisch unter hohem Druck wegen der Auseinandersetzungen mit dem Schweizer Verband und ihrem Ex-Team. 2016 trat sie zu den Schweizer Meisterschaften an und gewann sowohl das Strassenrennen als auch das Einzelzeitfahren, spürte aber deutlich, dass sie in ihrer Heimat eigentlich nicht mehr willkommen war. Im Wissen, vom Schweizer Verband mit Sicherheit nicht mehr für eine Weltmeisterschaft selektioniert zu werden, orientierte sie sich stattdessen in Richtung Dänemark und später Nordamerika und bestritt in der Schweiz kaum mehr Rennen.
Zusammenbruch und acht Monate Pause
Schliesslich wurde ihr 2017 alles zu viel. «Ich musste acht Monate lang pausieren.» Es gelang ihr schliesslich, das tiefe Wellental zu durchschreiten und wieder Tritt zu fassen. Aber jene Erfahrung hinterliess Spuren bei ihr. Die Stehauffrau, die nach der Matura einzig auf die Karte Sport gesetzt hatte, realisierte: «Es ist für mich nicht mehr richtig, 100 Prozent auf den Sport zu setzen. Es gibt noch ein Leben danach.» Seit 2017 ging sie parallel zur Sportkarriere immer einer Erwerbsarbeit nach.
Nach dem Rücktritt im vergangenen Sommer ist das Velo ihr steter Begleiter geblieben. «Ich trainiere noch immer recht oft. Das Velofahren macht mir nach wie vor Spass. Ich würde es vermissen. Den ganzen Rennzirkus hingegen vermisse ich überhaupt nicht.» Sie geniesst die neugewonnenen Freiheiten, freut sich über Ausfahrten ohne strikten Trainingsplan. 15 bis 20 Stunden pro Woche sitzt sie noch immer im Rennsattel. Fit ist die 33-Jährige also. Da kann es auch nicht völlig erstaunen, wenn sie sagt: «Ich schliesse nicht aus, nochmals ein Rennen zu fahren. Einfach aus Spass.»
Rückkehr als Funktionärin?
Die Prioritäten indes haben sich verschoben. Momentan jobbt sie in einem Oltner Restaurant im Service. Und im Herbst wird sie an der Fachhochschule Graubünden ein Tourismusstudium in Angriff nehmen. Mit einem prall gefüllten Rucksack. «Ich denke, dass ich viel, viel besser vorbereitet bin als die meisten meiner Mitstudenten. Ich konnte so viele Sprachen lernen, so vieles sehen, in so viele Bereiche Einblicke erhalten – dafür bin ich dankbar.»
Was sie in Zukunft beruflich machen wird, weiss sie noch nicht genau. Vorstellungen indes hat sie schon einige. Sie kann sich zum Beispiel vorstellen, dereinst Veloferien anzubieten. Selbst eine Rückkehr in den inneren Zirkel des Radsportes sei denkbar. Die Aufgabe als Teammanagerin würde sie reizen – um es dann besser zu machen als manche ihrer ehemaligen «Chefs».
kurz und knapp
Dieses Buch kann ich wärmstens empfehlen
«The Gifts of Imperfection» von Brene Brown. Ich bin an sich ein sehr perfektionistischer Mensch. Und manchmal würde es einem eben besser gehen, wenn man diese Eigenschaft ein wenig ablegen könnte.
Auf diesen Gegenstand kann ich nicht verzichten
Auf mein Velo. Das Velofahren erdet, beruhigt mich, gibt mir ein gutes Gefühl.
An diesem Ort gefällt es mir ausgezeichnet
In Italien. Das ist mein zweites Daheim. In mancherlei Dingen sogar mein erstes. Die dortige Kultur und Lebensart entsprechen mir fast mehr als diejenige in der Schweiz.