«Die Geisterstadt»

Aus recht durchsichtigen Gründen, mir aber nicht recht geheuren Gründen bleibe ich, wenn ich auf Dienstreise bin, immer in Kleinstädten hängen, die zehn - bis zwanzigtausend Einwohner haben und mich irgendwie an Olten erinnern. Kürzlich bin ich im Nordosten Kaliforniens in eine Goldgräber-Geisterstadt namens Bodie auf 3000 Metern über Meer geraten. Im Winter liegen dort drei Meter Schnee, und der Boden ist so hart gefroren, dass damals, als hier noch Menschen lebten und starben, der Totengräber die Gräber mit Dynamit ausheben musste. Bumm, Bumm, Bumm, dröhnte es vor hundert Jahren von morgens bis abends, als die Goldgräber wie die Fliegen an Diphtherie und Lungenentzündung starben, und der Boden zitterte und die Fensterscheiben klirrten im bröseligen Kitt.

Die schönsten Begräbnisse feierten die Chinesen, die in Bodies Chinatown Wäschereien und Restaurants für die Gold-gräber betrieben. Sie streuten auf dem Weg vom Haus des Verstorbenen zum Friedhof eine knappe Meile vor der Stadt tausende von roten Papierschnitzeln aus. Diese Schnitzel musste der Teufel alle erst aufheben, bevor er sich hinter die Seele des Verstorbenen machen konnte. Und diese war bis dahin natürlich längst in den Himmel entschwunden. Damit es der Seele unterwegs an nichts fehlte, legten die Hinterbliebenen gemäss chinesischer Tradi-tion allerlei kulinarische Köstlichkeiten aufs Grab. Und wahr ist auch, dass die Paiute-Indianer, die ringsum hinter den Hügeln lebten, rasch ein reges Interesse für chinesische Bestattungsrituale entwickelten und ihrerseits nach jeder chinesischen Beerdigung in ihren Dörfern die schönsten Festmahle mit Frühlingsrollen und süsssaurem Schweinebraten abhielten.

Alex Capus

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