Ein grosses Wort

Die Heimat verlassen, für immer. Weil die Aussicht auf ein besseres Leben lockt oder weil Krieg, Repression und Umweltzerstörung zum Gehen drängen. Irgendeinmal steht der Entschluss fest und das Bündel ist geschnürt. Schon immer haben Menschen ihr Land verlassen und sich woanders niedergelassen, Migration ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte. Berührend wird es, wenn abstrakte Fakten dank einer persönlichen Begegnung ein Gesicht erhalten. So wie diesen Sommer während den Ferien in Kühlungsborn, wo wir einem älteren Mann begegneten, der im Jahr 1962 vom selben Ort aus einen Fluchtversuch gestartet hatte. Mit einem Kollegen und dem Ruderboot ging es bei Nacht und Nebel aufs Meer hinaus, um die DDR zu verlassen und im Westen eine neue Existenz auf-zubauen. Doch das Wetter machte den beiden jungen Männern einen Strich durch die Rechnung: Nach stundenlangem Rudern auf dem Meer landeten sie völlig entkräftet wieder auf Ostdeutschem Boden und wurden von DDR-Grenzsoldaten aufgegriffen. Statt BRD gab es Straflager. Dort wurde der Kaffee mit Zusatz serviert, damit der Fluchtwillige später nie Kinder haben könnte, erzählt uns der inzwischen 79-Jährige, lächelt milde und wischt sich eine Träne aus den Augen.
Ich denke an unser Land, an die vielen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Mitwirkung und politischen Teilhabe. Und ich denke beschämt daran, wie wenig wir das nutzen, weil es uns ja ohnehin gut geht. Was man hat, schätzt man erst, wenn man es nicht mehr hat. Das ist eine Binsenwahrheit, aber sie wird mir an diesem Sommermorgen an der Ostsee wieder bewusst. Ergriffen von der Begegnung mit dem Zeitzeugen verabschiede ich ihn etwas überschwänglich mit einem «Auf die Freiheit!» Er drückt mir sanft die Hand und sagt: «Freiheit ist ein grosses Wort.»