«Meine Schweizerfahne»

Mein Nachbar Urs hat in seinem Garten einen fachgerechtgeschnittenen Apfelbaum, einen tipptoppen Rasen und einen Fahnenmast samt Schweizer-fahne.
Zu Beginn unserer Nachbarschaft störte mich die Schweizerfahne ehrlich gesagt ein wenig. Natürlich ist gegen eine Schweizerfahne nichts einzuwenden,jedermann kann eine im Garten haben, wenn er will - aber muss man?
Über die Jahre habe ich mich an die Fahne gewöhnt. Urs und ich wurden gute Nachbarn. Wir entdeckten zu unserer beiderseitigen Überraschung, dass wir in fast allen Dingen des Lebens ähnlicher Ansicht sind. Als meine Kinder klein waren, machte er für sie den Nikolaus. Jetzt sind sie gross, und Urs und ich sind ein bisschen älter geworden.
Die Fahne wurde im Lauf der Jahre blass und franste an den Säumen aus. Es kam die Zeit, da mich ihr schäbiges Aussehen ehrlich gesagt ein wenig zustören begann und ich bei mir dachte, dass Urs allmählich mal Ersatz beschaffen könnte.
Eines Tages war die neue Fahne dann plötzlich da, knallrot leuchtend und mit messerscharfen, überhaupt nicht ausgefransten Säumen. Bei genauerem Hinsehen aber bemerkte ich, dass sie nicht aus dem währschaften, schweren Tuch ihrer Vorgängerin gewoben war, sondern aus hauchdünnem synthetischem Satin mutmasslich chinesischer Herkunft.
Ich muss zugeben, dass mich das billige Fähnchen zu Beginn ein wenig störte. Also brachte ich das Thema bei passender Gelegenheit sachte aufs Tapet, worauf Urs mir erklärte, dass der Preisunterschied zwischen einer günstigen und einer teuren Schweizerfahne verdammtnochmal mehrere hundertProzent beträgt.
In der Zwischenzeit habe ich mich an die neue Fahne gewöhnt. Nur manchmal, wenn sie stolz und ein wenig nervöser als ihre Vorgängerin im Westwind flattert, trage ich mich mit dem Gedanken, meinem Nachbarn Urs eine ordentliche Schweizerfahne zu schenken.
Zu Weihnachten vielleicht.
Oder noch besser, zum 1. August.
Alex Capus