Urbaner Raum

«Sag mal», frage ich die Jüngste, «was bedeutet für dich urban?» Die Jüngste bearbeitet gerade ihr Smartphone. Spotify, Instagram – sie ist ganz auf den kleinen Bildschirm in ihren Händen konzentriert. Irgendwie schaffe ich es, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. «Urban hat etwas mit Grossstadt zu tun», antwortet sie, «irgendwie gangstamässig. Warum fragst du?» «Weil...», hebe ich an, doch die Jüngste ist bereits wieder eins mit ihrem Gerät, das gerade getönt hat.
Das Wort urban beschäftigt mich, seit ich im kantonalen Richtplan darauf gestossen bin, einem 270 starken Papier, das vor kurzem erschienen ist. Präzise gesagt war es mein Gatte, der’s entdeckt hat: Unser Wohnort Hägendorf ist «urban». Genauso wie Wangen oder Egerkingen, Dulliken oder Balsthal, ja sogar das kleine Rickenbach gilt als «urban», Olten sowieso. «Im urbanen Raum erfolgt die Hauptentwicklung des Kantons», steht im Richtplantext.
Potzdonner! Da dachte ich jahrelang, in Hägendorf stehe die Kirche noch im Dorf und das Schulhaus gleich daneben, umgeben von ruhigen Quartieren, reichlich Grünflächen, viel Wald und vereinzelten Bauernhöfen. Eine ländliche Idylle, in der es sich gut lebt. Aber das ist wohl nur die halbe Wahrheit: Gemäss Richtplan zeichnen sich Gemeinden wie Hägendorf vor allem durch «attraktive Zentrumsfunktionen» aus. Es geht um Arbeitsplatzdichte und Wertschöpfung, denn: «Der urbane Raum ist der eigentliche Wirtschaftsmotor des Kantons.»
«Hast du gewusst, dass Hägendorf urban ist?», stupse ich die Jüngste erneut. Jetzt lässt sie ihr Smartphone sinken und schaut mich an, dann prustet sie los: «Hägendorf ist ein Kaff», sagt sie und biegt sich vor Lachen, «du und ich, wir sind Landeier!»