Eine Bibliothek für alle
Sibylle Scherer Die Leiterin der Stadtbibliothek Olten Sibylle Scherer tritt Ende Monat nach 40 Jahren in den Ruhestand. Sie blickt zurück auf ihre Anfänge als «Fräulein» und erklärt, wieso ein sparsames Vorgehen in ihren Augen im Moment für die Institution Sinn machen würde.

Dass aus ihr eine Leseratte werden könnte, hätte Sibylle Scherer zu Beginn ihrer Schulzeit nicht gedacht. «Am Rande eines kleinen Waldes....», dieser erste Satz im Buch, welches sie als kleines Mädchen für ihre ersten Leseversuche zu Ostern geschenkt bekommen hatte, brannten sich ihr ins Gedächtnis. «Ich habe verzweifelt über dem Buch gesessen und den Satz so lange immer und immer wieder versucht zu lesen, bis ich ihn schliesslich auswendig aufsagen, doch noch immer nicht lesen konnte», erinnert sich die gebürtige Oltnerin und Älteste von drei Geschwistern an ihren schwierigen Start mit den Wörtern zurück und fügt lächelnd an: «Ich war damals überzeugt, dass ich niemals lesen lernen würde.» Nach einer nicht gerade glücklichen Grundschulzeit waren zudem zwei Anläufe nötig, damit sich ihr grosser Wunsch, die Aufnahme an der Kanti, erfüllen sollte. «Keine Ahnung, wieso ich unbedingt die Kanti besuchen wollte, aber dort eröffnete sich mir mit den motivierenden Lehrern und den faszinierenden Themen eine neue Welt», erzählt Scherer, die nach der Matura ein Altphilologie-Studium in Zürich absolvierte.
Einstieg in eine Männerdomäne
1980 zurück in Olten bekundete die junge Frau in der Stadtbibliothek ihr Interesse, zusätzlich die Bibliothekaren-Ausbildung anzuhängen. Alt-Stadtbibliothekar Hans Wyss zeigte, positiv beeinflusst durch seine emanzipierte Frau und die drei Töchter, keine Berührungsängste und gab Scherer trotz des männerdominierten Berufes die Möglichkeit für den Berufseinstieg. Dieser sei hart gewesen. «In einer kleinen Ecke sass ich, das Fräulein, an der Schreibmaschine und katalogisierte. Daneben besuchte ich während eines Tages pro Woche den Bibliothekarenkurs in Bern. Dabei war es nicht das Team bestehend aus den Alt-Stadtbibliothekaren Hans Wyss und Christoph Rast, das mit mir als Frau Mühe hatte, sondern die Kundschaft», erzählt Scherer. Sie sei in der ersten Phase von den Männern ignoriert worden. «Doch ich bin resilient. So betrachtete ich das Überwinden dieser schwierigen Anfangsphase als persönliche Weiterentwicklung», so Scherer kämpferisch.
Fehlende Weichenstellung
Trotz des schwierigen Einstiegs sollte die Bibliothekarin dem markanten Haus mit der schwarzen Eingangstüre, das rund 11’000 Romane, rund 130’000 Sachbücher, 4’100 DVD’s, 4’000 Hörbücher, 600 Landkarten, 14 Tageszeitungen und rund 60 Magazine auf einer Fläche von 600 m² beheimatet, während 40 Jahren treu bleiben. «Damals waren wir eine sogenannte Magazinbibliothek, deren Theke der eines Bahnschalters ähnlich sah», erzählt Scherer. Die Kunden teilten ihre Wünsche mit und die Bibliothekare holten die Bücher. Alt-Stadtbibliothekar Christoph Rast sei es gewesen, der sich schliesslich in einem ersten Schritt für einen frei zugänglichen Belletristikbereich einsetzte. «1991 wurde das Gebäude komplett ausgehöhlt», erinnert sich Scherer an die Zeit zurück, als sie während zweier Jahre in der Rötzmatt in einem Provisorium untergebracht waren. «Damals wurde der Eingangsbereich an die Hauptgasse verlegt und ein Zwischengeschoss ein- sowie die Abwartswohnung im Dachgeschoss umgebaut», erzählt die Stadtbibliothekarin und fügt schmunzelnd an: «Während dieser Zeit haben wir auch die erste halbautomatische Schreibmaschine mit einer zehnziffrigen Displayanzeige bekommen, was die Anfertigung von bis zu sechs Karten pro Buch etwas erleichterte.» Ihrer Meinung nach hätten bereits damals die Weichen für die Stadtbibliothek neu gestellt werden müssen. «Da wir jedoch die Auflage hatten, auch im Provisorium unsere Türen offen zu halten, fehlte unserem dreiköpfigen Team die Zeit, um entsprechende Themen anzugehen. Andere Bibliotheken hatten beispielsweise schon lange auf die Dezimalklassifikation umgestellt, während wir noch immer mit dem Signaturensytem aus dem 19. Jahrhundert arbeiteten», erzählt Scherer und fügt an: «Zudem wäre bereits damals eine Entrümpelung nötig gewesen. Eine Schenkung abzulehnen ist schwierig, doch wir können nicht alle Bücher im Bestand aufnehmen.» Deshalb entschied sich Scherer, den Bibliotheksbestand in den vergangenen Jahren durch einen renommierten Buchantiquar prüfen zu lassen und sich von vielen Titeln zu trennen.
Kleine Familie
«Der Mensch ist das Mass aller Dinge, sagte einst Protagoras. Dieser Satz ist auch mir sehr wichtig», erzählt die passionierte Zeitungsleserin, die wegen der vielseitigen Arbeit, aber auch dem familiären Team nie wirklich einen Wechsel in eine grössere Bibliothek in Betracht gezogen hat. «Wo sonst hätte ich als kopflastiger Mensch sowohl im Hintergrund als auch an der lebendigen Front arbeiten können? Ich habe mit Fränzi Lerch-Brunner nun 30 Jahre zusammengearbeitet und pflegte mit dem gesamten Team einen familiären Umgang», erzählt Scherer, die 2015 den Chef-Posten von Alt-Stadtbibliothekar Christoph Rast, der auch ihr Lebenspartner ist, übernommen hat. «Chef zu sein war für mich nie wichtig, weshalb ich es mir länger überlegt habe, bevor ich den Posten übernahm», erzählt Scherer rückblickend.
Im Team gegen Anfeindungen
Das Team war es auch, das dabei geholfen hatte, die Anfeindungen von aussen wegen den Öffnungszeiten der Bibliothek mitzutragen. «Nach der Pensionierung von Christoph Rast wurde aufgrund der Sparbemühungen der Stadt die einige Zeit zuvor bewilligte 50%-Stelle wieder gestrichen, weswegen wir leider auch die Öffnungszeiten wieder nach unten korrigieren mussten», erklärt Scherer. Dies sei sowohl für das Team als auch das Publikum ein schmerzlicher Einschnitt gewesen. Deshalb freute es die Bibliotheksleiterin auch, dass die im Januar vorgestellte Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur zum selben Schluss gekommen ist. «Wir wollten stets eine Bibliothek für die Leute sein», betont Scherer und hofft, dass dies bei der neuen Ausrichtung nicht vergessen geht. «Im Moment wird diskutiert, die Selbstverbuchung für die Kunden einzuführen und die Arbeitstheke beim Eingang zu verkleinern. «Wir haben jedoch teilweise eine ältere Kundschaft, welche sich wahrscheinlich mit der Selbstausleihe schwertun würde. Zudem befürchte ich, dass nun viel Geld investiert wird und später, wenn das Hübelischulhaus für eine Zusammenführung mit der Jugendbibliothek frei wird, kein Geld mehr gesprochen wird, um das Haus in eine Bibliothek der heutigen Zeit zu verwandeln», gibt Scherer zu bedenken. Die Idee der Zusammenführung kennt sie seit Jahrzehnten und unterstützt sie grundsätzlich. «Bisher scheiterte es jedoch am Platz.»
Freude bis zur letzten Stunde
Scherer möchte nun mit ihrer Pensionierung einen Schnitt machen und sich künftig nicht mehr mit der Ausrichtung der Bibliothek beschäftigen, sondern diese und ihre Schätze als Kundin nutzen. «Wir haben heute einen anderen Zeitgeist, weswegen meine Nachfolgerin Dorothee Windlin freie Hand für ihre Entscheidungen haben soll», betont Scherer. Auf die Pensionierung angesprochen meint sie lachend, dass es komisch sei, ohne Arbeit plötzlich Geld zu erhalten. «Sicherlich ist dieser Gedanke meiner leistungsorientierten Erziehung geschuldet, die zwar streng war, aber gleichzeitig viel Freiheiten bot, welche mir schon früh das Reisen in ferne Länder wie Italien und Griechenland ermöglichte», erzählt Scherer dankbar. Eine grosse Umstellung werde es aber auf jeden Fall werden, so habe ihr die Arbeit bis zur letzten Stunde Freude bereitet und sich stark mit dem Privatleben vermischt. «Aus Neugier lese ich täglich mehrere Zeitungen, bisher auch stets mit dem Gedanken, etwas Spannendes für die Bibliothek zu finden», erzählt die 63-Jährige. Nun freut sie sich künftig wieder mehr Zeit zu haben, um Freundschaften zu pflegen und Zeitungen sowie Bücher zu lesen.