«SAC muss mit gutem Beispiel vorangehen»

Stefan Goerre Seit September 2021 präsidiert der Oltner Kardiologe Stefan Goerre den Schweizer Alpen-Club SAC. Der gebürtige Bündner besteigt seit mehr als 50 Jahren Berge und bekommt so die Auswirkungen des Klimawandels hautnah mit.

Ob im Winter (Bild) oder im Sommer: SAC-Präsident Stefan Goerre ist oft und gerne in den Alpen unterwegs. (Bild: SAC/Hugo Vincent)
Ob im Winter (Bild) oder im Sommer: SAC-Präsident Stefan Goerre ist oft und gerne in den Alpen unterwegs. (Bild: SAC/Hugo Vincent)

Herr Goerre, wir erleben einen ausserordentlich schönen und warmen Sommer, Möglichkeiten für Bergtouren gibt es reichlich. Wo führte ihre letzte hin?

Stefan Goerre: Auf die Zsigmondyspitze im Zillertal. Es handelte sich dabei um die letzte Aktivität im Rahmen einer Tourenwoche im Zillertal. Acht Mitglieder der SAC-Sektion Olten waren da gemeinsam unterwegs. Eine solche Tourenwoche im Sommer führen wir jedes Jahr durch.

Haben Sie sich dabei immer sicher gefühlt?

Ja, durchaus. Wir unternahmen in dieser Woche überwiegend Klettertouren. Und Klettern ist sicherer als zum Beispiel Gletschertouren oder Aufstiege in steilen Firnflanken, weil man beim Klettern immer gesichert ist. Aber kurz vorher unternahm ich im Mont-Blanc-Massiv Gletschertouren. Bei der Rückkehr von einer der Touren kamen uns Seilbahn-Touristen entgegen, die unangeseilt den Gletscher entdecken wollten. Wir mussten sie relativ unsanft «zurückpfeifen». Sie wären sonst wohl in die nächste Spalte gestürzt. Wer das Hochgebirge und seine Gefahren nicht kennt, sollte nicht einfach drauflos marschieren.

Anfang Juli gab es an der Marmolata in den italienischen Dolomiten einen verheerenden Gletscherabbruch mit vielen Toten. Ereignisse wie diese häufen sich. Passt der SAC aufgrund solcher Ereignisse seine Verhaltensregeln an?

Der SAC gibt in erster Linie Empfehlungen zur Anwendung der Alpintechnik heraus: Wie seilt man sich an? Wie viele Meter Abstand hält man auf dem Gletscher ein? Der Unfall an der Marmolata wäre auch unter Einhaltung dieser Regeln und Empfehlungen nicht zu verhindern gewesen. In den Ausbildungskursen werden unsere Mitglieder aber dafür sensibilisiert, dass die Spaltenbrücken weniger stabil sind, dass man sich nie lange im Abbruchbereich eines Gletschers aufhalten und früh aufbrechen sollte, damit man von der Bergtour zurück ist, bevor die Schneeauflage weich wird. Solche und viele andere Verhaltensregeln gehören zur normalen Alpinausbildung in den SAC-Kursen.

Der SAC ist direkt vom Klimawandel betroffen, auch durch seine vielen Hütten.

Ja, das ist leider eine Tatsache. Der SAC respektive seine Sektionen besitzen und bewirtschaften 153 Hütten, nicht wenige davon im Bereich des Permafrosts. Aufgrund der Klimaerwärmung gibt es nun bereits Hütten, deren Standorte instabil geworden sind. Ein Beispiel ist die Mutthornhütte der Oltner Nachbarsektion Weissenstein. Die Solothurner Kameraden mussten die Hütte präventiv schliessen, obwohl sie noch intakt und funktionsfähig ist. Möglicherweise muss die Hütte an einem neuen, sichereren Standort wieder aufgebaut werden. Die Trifthütte und das Mittelaletsch-Biwak sind durch Lawinen zerstört worden, nachdem sie zuvor auch in strengen Lawinenwintern nie tangiert worden waren. Die Fachleute gehen davon aus, dass diese Lawinen indirekt ebenfalls mit der Klimaerwärmung im Zusammenhang stehen. Ein neues Problem ist auch die Wasserknappheit in den Hütten. Der SAC und die Bergsportler sind somit auf Schritt und Tritt mit den Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert. Darum möchten wir auch ein Zeichen setzen statt uns nur über diese Veränderungen zu beklagen.

Konkret?

Wir werden Massnahmen ergreifen, um weniger Helikopterflüge in die Hütten zu machen. Der SAC-Zentralverband soll bis 2030 klimaneutral sein. Und wir möchten unsere 111 Sektionen motivieren, dass auch sie bis 2040 eine neutrale Klimabilanz haben. Das wird unter anderem bedeuten, dass die Anreise in die Berge bei Sektionstouren mit dem ÖV statt mit dem Auto erfolgen wird. Das Tourenprogramm muss entsprechend angepasst werden. Gewisse Touren werden wir nicht mehr machen können oder dann mit mehr Zeitaufwand. Das sind recht einschneidende Massnahmen.

Wie will man denn die Anzahl der Helikopterflüge reduzieren?

Das geht nur, wenn wir bereit sind, in den Hütten beim Komfort gewisse Abstriche zu machen, zum Beispiel nicht mehr unbeschränkt Bier, Coca-Cola, Rivella oder Mineralwasser zu trinken, sondern halt wie früher Tee, Sirup und Wasser. Oder indem wir auch ein reduziertes kulinarisches Angebot in Kauf nehmen. Nur schon mit solchen einfachen Massnahmen können einige Helikopter-Transporte eingespart werden. Gewisse Sektionen planen auch, ihre Hütten wieder mit Maultieren versorgen zu lassen.

Der SAC ist dazu bereit?

Ja. Der Zentralverband ist am Finalisieren einer detaillierten Klimastrategie mit konkreten CO2-Absenkpfaden. Der SAC muss mit gutem Beispiel vorangehen. Wir sind ja viel mehr vom Klimawandel betroffen als beispielsweise ein Fussball- oder ein Tennis-Club.

Sie sind 63 Jahre alt, unternahmen mit 14 Jahren erstmals eine Bergtour, inzwischen haben Sie längst sämtliche 48 4000er der Schweiz mindestens einmal bestiegen. Sie überblicken also rund 50 Jahre Alpingeschichte in der Schweiz. Wie hat sich das Erscheinungsbild der Alpen in diesem Zeitraum gewandelt?

Es hat sich massiv verschlechtert. Zum Beispiel sind heute im Morteratschtal die beiden Gletscher durch eine mehrere hundert Meter breite Geröllhalde voneinander getrennt. Als ich jung war, gab es da noch einen einzigen, zusammenhängenden Gletscher – solche Erfahrungen tun schon weh. Bei gewissen Klettertouren konnten wir früher bequem über einen Firnhang zum Einstieg gelangen. Heute beginnt die Kletterei 50 bis 100 Meter tiefer, und statt über Firn müssen wir über unangenehm glatte Gletscherschliffplatten und Geröll hochklettern, was auch das Risiko deutlich erhöht. Gewisse Touren kann man gar nicht mehr machen, weil die Felsmassen abgebrochen sind. Die beiden bekanntesten Beispiele sind der Bonatti-Pfeiler am Petit Dru und der Pizzo Cengalo im Bergell. Wenn man bedenkt, dass geologische Veränderungen normalerweise Jahrmillionen beanspruchen, sind das massive Veränderungen in einem extrem kurzen Zeitraum.

In der Corona-Zeit konnten viele Leute nicht ins Ausland reisen und entdeckten deshalb die heimische Bergwelt. Freut Sie das? Oder ängstigt Sie das vielleicht sogar?

Grundsätzlich ist es immer schön, wenn man für einen Sport und einen Verband steht, der Zulauf erfährt. Aber das starke Mitgliederwachstum ist auch eine Herausforderung für uns. Wir müssen die neuen Mitglieder alpintechnisch ausbilden und für ein klimagerechtes Verhalten sensibilisieren. Aber es ist sicher die dankbarere Aufgabe, als wenn wir gegen schwindende Mitgliederzahlen ankämpfen müssten.

Und keine, die den SAC zu überfordern droht?

(zögert) Ich bin noch nicht einmal ein Jahr im Amt. In dieser Zeit durfte ich aber eine sehr gute Unterstützung durch meine Kameradinnen und Kameraden im Zentralvorstand, die Mitarbeitenden der Geschäftsstelle und auch die Präsidenten und Präsidentinnen der 111 SAC-Sektionen erleben. Es ist mir aber auch bewusst, dass gewisse Massnahmen und Veränderungen Gegenwind auslösen werden und dass wir gut argumentieren müssen, wenn wir zum Beispiel von den Sektionen erwarten, dass ihr Tourenprogramm und ihre Hütten bis in 20 Jahren klimaneutral sein sollen.

Der SAC hat mehr als 170000 Mitglieder. Dennoch nannten Sie bei Amtsantritt die Nachwuchsförderung als eines der wichtigsten Anliegen. Kommt der Nachwuchs nicht ohnehin von alleine?

Nein. Wir haben viel Zuwachs bei den 40-bis 60-Jährigen und bei den über 65-Jährigen. Aber prozentual deutlich weniger bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Aber die sind unsere Zukunft. Hier müssen wir umdenken: Früher fanden die Jungen übers Wandern, über Jugend+Sport-Kurse oder militärische Gebirgskurse zum Bergsteigen. Heute führt der Weg zum Bergsteigen über das Klettern in den Kletterhallen und das Sportklettern in den Klettergärten. Mit diesem Einstieg bekunden traditionelle Alpenclübler oft Mühe.

Zum Schluss noch etwas «leichtere Kost». Was sind für Sie die drei schönsten 4000er der Schweiz?

Das Weisshorn wegen seiner Grate, seiner Form und weil ich da mit der Überschreitung Schaligrat-Nordgrat eine meiner grossen Touren machen konnte. Als Heimweh-Bündner zähle ich natürlich auch den Piz Bernina mit dem Bianco-Grat dazu. Als Nummer 3 würde ich das Schreckhorn wählen: Es hat sehr guten Fels, und seine Besteigung ist eine ganz schöne Klettertour.

Wo hatten Sie Ihre eindrücklichstes Bergerlebnis im Ausland?

Grosses Kino war die Überschreitung Grand-Charmoz-Grépon im Mont-Blanc-Massiv – eine lange, anspruchsvolle Klettertour, bei der man auf den Spuren der Pioniere klettert und staunt, was die damals mit ihrer rudimentären Ausrüstung schon konnten und wagten.

Welche drei Utensilien haben Sie bei einer Hochgebirgstour immer dabei?

Immer dabei habe ich einen kleinen Biwaksack und eine kleine Apotheke. Und was heutzutage halt auch auf Bergtouren ein Muss ist: das Handy. Auf diesem hat man das GPS, die Route und den Notruf.

 

Mitglied in zwei SAC-Sektionen

Stefan Goerre präsidiert seit September 2021 den Zentralvorstand des Schweizer Alpen-Clubs SAC, den fünftgrössten Sportverband der Schweiz. Zuvor war der in Thusis aufgewachsene Bündner neun Jahre lang Präsident der SAC-Sektion Olten, der er seit 1998 angehört. Diese hat rund 1200 Mitglieder und ist der grösste Sportverein der Region. Der 63-Jährige hat als Jugendlicher mit dem Bergsport angefangen, damals in der SAC-Sektion Piz Platta, der er bis heute treu geblieben ist. Seit seiner Gründung 1863 (in Olten!) gestaltet der SAC mit seinen heute 111 Sektionen die Entwicklung des Alpenraums und des Alpinismus mit. Seit vielen Jahren arbeitet Goerre als Kardiologe in der Herzpraxis Olten. Er hat drei erwachsene Kinder und wohnt mit seiner Frau in Zofingen. (agu)

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