Lichtblicke im Dunkeln

Anlässlich des internationalen «Tages des Weissen Stockes» am 15. Oktober sprechen wir mit der sehbehinderten Sabine Reist über Hindernisse auf dem Trottoir, ihr Leben als Studentin und fehlende Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

FHNW-Studentin Sabine Reist pendelt mit ihrer Blindenführhündin Cassie mehrmals wöchentlich nach Olten. (Bild: mim)
FHNW-Studentin Sabine Reist pendelt mit ihrer Blindenführhündin Cassie mehrmals wöchentlich nach Olten. (Bild: mim)

Mit einem Blindenführhund an der Seite seien Schilder oder Baustellen auf dem Trottoir gut zu umgehen, da dieser um die Hindernisse herumführe, erklärt Sabine Reist. Mit dem Stock jedoch steige die Gefahr, zu verunfallen - sich den Kopf zu stossen oder in Schilder hineinzugehen - wenn das Hindernis nicht oder zu spät ertastet werden könne, erzählt die 37-jährige Zuchwilerin von den täglichen Herausforderungen als sehbehinderte Person. Von den weissen, erhöhten Leitlinien gäbe es viele an Bahnhöfen wie Zürich, Bern oder Basel, doch in Olten, wo Reist seit 2017 ein Teilzeitstudium an der Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW besucht, seien sie nicht vor- handen.

Staub saugen mit Strategie

Als Fötus im Bauch ihrer Mutter infizierte sich Reist mit Toxoplasmose. Die Infektionskrankheit, die durch Katzen übertragen werden kann, griff bei Reist die Netzhaut an. Auf dem rechten Auge ist sie blind und auf dem anderen hatte sie als Kind zehn Prozent Sehvermögen. «Heute sind es noch drei bis fünf Prozent», erklärt sie. «Je nach Tagesform kann ich Umrisse sowie helle Farben er- kennen und vielleicht mit einer Handleuchtlupe ein kurzes Dokument lesen.» Reist besuchte bis zur 5. Klasse die öffentliche Schule mit Stützunterricht und danach die Blindenschule im ber- nischen Zollikofen. «Ich lernte die Blindenschrift und lebenspraktische Fertigkeiten. Beispielsweise mit Strategie Staub zu saugen, damit danach der ganze Raum sauber ist», erzählt die Zuchwilerin, die seit ihrem achten Lebensjahr Mitglied der Regionalgruppe Nordwestschweiz des Schwei- zerischen Blindenbundes ist und seit 11 Jahren auch dem Vorstand angehört. «Mein Berufs- wunsch war Kindergärtnerin.» Nach der Schule absolvierte sie jedoch eine Lehre als kauf- männische Angestellte. Einen Job fand sie danach nicht, weshalb sie einige Jahre im Betrieb ihres Vaters in der Buchhaltung arbeitete und Weiterbildungen, wie die zur Sachbearbeiterin Sozial- versicherungen, absolvierte.

Herausforderndes Studium

Mit 24 Jahren begann Reist zudem im Service des Dunkelrestaurants «Blinde Kuh» in Zürich zu arbeiten. «Auch nach 12 Jahren mit Unterbrüchen schätze ich die Arbeit sehr, trotz der fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten», erzählt die Studentin, die jeweils zwei Abende pro Woche die Gäste empfängt und diese an ihre Plätze führt. Keine einfache Aufgabe, denn die Bestellung kann nicht notiert, sondern muss im Gedächtnis gespeichert werden. Daneben dürfe die Effizienz nicht leiden. Sie freue sich zwar über die beeindruckten und positiven Reaktionen der Sehenden, bedauere es jedoch, dass es nie über ein Lob hinausgehe. «Unter den Gästen befinden sich sicherlich auch Geschäftsinhaber, welche sich dafür einsetzen könnten, dass sehbehinderte Personen eine Chan- ce im Arbeitsmarkt erhalten», zeigt Reist frustriert auf. Nach einer Lebenskrise im Jahr 2010 entschied sie sich, dem KV-Beruf den Rücken zu kehren. Sie absolvierte ein Praktikum im Kinder- garten und ein Aufnahmeverfahren für die Fachhochschule. Die Unterlagen erhalte sie vor dem Unterricht und sie habe einen Nachteilsausgleich mit der zuständigen Person der Studienberatung ausgehandelt. «Doch die Herausforderung beginnt bereits bei den Lehrmitteln, die nicht immer mit der Sprachhilfe am Computer kompatibel sind.»

Der Wunsch nach Chancen

Ihren Alltag selbstständig zu bestreiten ist der Zuchwilerin ein grosses Anliegen. «Meine Wohnung ist strukturiert aufgeräumt, damit ich alle Gegenstände finde», erzählt Reist, die alleine lebt. Neben Hilfsmitteln wie einer sprechenden Waage, aufgeklebten Punkten an der Waschmaschine mit Touchscreen-Bedienfeld, dem Laptop mit Braillezeile, Sprachausgabe und Lesegerät sowie dem Mobiltelefon mit Sprachausgabe trägt der Hund für die 37-Jährige viel zur Selbstständigkeit bei. Nachdem sie die zehnjährige Hündin Quinoa nach sechs Jahren an eine Familie übergeben hatte, bei welcher sie ihren Lebensabend ohne zu arbeiten verbringen darf, ist im Januar die dreijährige Cassie in ihr Leben getreten. «Ich wusste, dass es eine Freundschaft auf Zeit ist, trotzdem fiel es mir nicht leicht Quinoa ziehen zu lassen, weshalb ich die verbleibende Zeit mit ihr bewusst mit Wanderferien genossen habe», erzählt die aktive Frau, die bis zu ihrem Studium mit jeweils einer Begleitperson Höhenwanderungen bestritt und Ski fuhr. Letzteres gerne zügig, wie sie schmun- zelnd verrät. Seit dem Studium bleibe nicht mehr so viel Zeit. Für das Gemüt singt Reist nun im Kirchenchor und besucht Pilates-Stunden. Früher habe sie sich auch gerne Hörbücher angehört. «Mein Hörkanal ist jedoch durch die ständige Beanspruchung im Studium überlastet.» Nach einem Dreivierteljahr hat sich Reist nun entschieden, Cassie an die Blindenführhundeschule zurück- zugeben. «Die Chemie zwischen uns stimmt nicht. Cassie reagiert unsicher inmitten von vielen Menschen, was mit meinem aktiven Leben nicht zu vereinbaren ist.» Reist hofft, bald einen neuen vierbeinigen Gefährten an ihrer Seite zu haben. Für die Zukunft wünscht sie sich, eine Praktikumsstelle und später einen Job in einer Beratungsstelle zu finden.

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