«Die Behörden hatten den Verdacht, ich sei ein Wolf im Schafspelz»

Im Gespräch Ende August hat der Oltner Schriftsteller Martin Rieder sein zweites Buch mit dem Titel «Der König» veröffentlicht. Dem Stadtanzeiger Olten erzählt er spannende Details aus seinem Leben.

Martin Rieder gibt sich in seinem dritten Lebensabschnitt ganz der Literatur hin. (Bild: Caspar Reimer)
Martin Rieder gibt sich in seinem dritten Lebensabschnitt ganz der Literatur hin. (Bild: Caspar Reimer)

In Martin Rieders Leben gibt es eine Wendung, eine Abkehr vom Absehbaren, die ihn heute noch überrascht. Nachdem er in «einfachen Verhältnissen» aufgewachsen war, machte er eine Lehre zum Maschinenzeichner, spielte leidenschaftlich Fussball beim FC Solothurn. «Bis ins Alter von 20 Jahren habe ich kaum ein Buch gelesen», sagt der heute 72-Jährige, der soeben seinen zweiten Roman mit dem Titel «Der König» herausgegeben hat. Wer ihn in seinem schönen Haus an der Felsenstrasse in Olten besucht, macht Bekanntschaft mit einem belesenen Intellektuellen, der im Gespräch mühelos komplexe Gedankengänge aufspannt, Philosophisches, Politisches und Geschichtliches miteinander verwebt.

Über seine damalige Entscheidung, sich umschulen zu lassen, den Lehrerberuf anzustreben, staune er noch heute. «Es war mir plötzlich klar, dass ich Lehrer werden, einen ganz anderen Beruf ausüben wollte.» Erst während seiner Ausbildung am Lehrerseminar Solothurn Mitte der 1970er-Jahre erwachte sein Interesse an Literatur und Politik. Prägende Figur war für ihn damals Fritz Grob – Schriftsteller, Sozialdemokrat und sein Deutschlehrer am Seminar. Dieser war in den 1950er-Jahren unter Protest als Lehrkraft gewählt worden, denn in den Hochblüten des Kalten Krieges standen Sozialdemokraten unter Generalverdacht, auf der falschen Seite zu spielen. «Im Seminar begann ich nicht nur zu lesen, sondern wurde auch politisch aktiv.» Aus dieser Wende in Rieders jungen Jahren zieht er heute einen philosophischen Schluss: «Es gibt immer die Freiheit, die eigene Prägung zu überwinden, etwas ganz Neues aus sich zu machen.»

Politisches Engagement mit Folgen

Zu Beginn seiner Laufbahn als Lehrer war Martin Rieder in der Anti-AKW-Bewegung aktiv – ein Umstand, der seinen beruflichen Weg mitgeprägt hat. «Das war damals sehr heikel. Es gab massive Disziplinierungen. Das wurde auch für mich zum Problem. Die Behörden hatten den Verdacht, ich sei Extremist, ein Wolf im Schafspelz.» Er musste um sein Lehrerpatent kämpfen, sehen, dass er «als Lehrer zu Arbeit kam» – anfängliche Stellenwechsel waren die Folge. Er unterrichtete zunächst im Kanton Aargau, dann in der Stadt Solothurn und schliesslich in Olten, wo er bis zu seiner Pensionierung 2015 tätig war.

Noch bis vor wenigen Jahren engagierte sich Rieder in der Oltner SP, allerdings nicht «auf der ideologischen, sondern mehr im Hintergrund auf Kommissionsebene.» Mittlerweile hat er der Partei den Rücken gekehrt, in Fragen der Zuwanderung und schulischen Integration kam es zum Zwist: «Es gibt keine Integration zum Nulltarif», sagt er. In dieser Beziehung seien ihm manche Teile der SP zu ideologisch geworden. «Ideologisches Denken ist eigentlich destruktiv. Wir brauchen Offenheit und Diskurs.» Es helfe nichts, unangenehme, schwierige Themen zu verdrängen, sie auf die lange Bank zu schieben.

Schreiben im Lockdown

Die Idee, selbst Romane zu schreiben, hat Martin Rieder all die Jahre als Lehrer mit sich getragen, die Muse dazu fand er erst nach seiner Pensionierung: «Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder kleinere Schreibversuche gemacht.» Diese Texte bildeten die Grundlage für seinen ersten Roman mit dem Titel «Weisskopf schweigt», erschienen im Frühjahr 2020: «Ich kratzte meine Texte zusammen und brachte sie in eine Form.» Entsprechend stehen in Rieders Debütroman die Erfordernisse des Schulalltags im Zentrum. Über seinen ersten Roman reflektiert Rieder heute: «Ich wollte von struktureller, symbolischer und physischer Gewalt gegen eine Lehrkraft erzählen, doch nicht auf eine politische oder sensationsgierige Art.» Die Vernissage war gut besucht, das Interesse in Olten gross, «aber das Buch hat kaum Beachtung über die Stadt hinaus gefunden».

Mit seinem zweiten Buch begann Rieder im Frühling 2020, eben dann, als die behördliche Direktive «Bleiben Sie zuhause» das Gebot der Stunde war. Martin Rieder befolgte die Anweisung und widmete sich von da an seinem neusten Werk. In «Der König» stehe das Thema Liebe im Vordergrund. «Es handelt von einer gescheiterten Liebe», sagt er, der von seiner Ehefrau getrennt, aber im gemeinsamen Haus lebt. «Natürlich ist das Thema des Scheiterns einer Liebe biografisch, auch wenn ich diese Liebesgeschichte so nicht erlebt habe. Leute, die mich kennen, sagen, man höre und spüre meine Person in jedem Satz wieder.» Dabei ging er vom Gedanken aus, «dass die Liebe erst in der Begrenzung sinnvoll ist, dort bekommt sie einen tieferen Sinn». Nebst der Liebe verarbeitet Rieder in seinem Text die Themen Gerechtigkeit und Masslosigkeit, «denn wir leben in einer Gesellschaft, die sich durch Unrecht und Masslosigkeit auszeichnet».

Zuerst entsteht das gedankliche Gerüst

Hört man Martin Rieder zu, ist es nur selten nötig, Fragen zu stellen, das Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken. Der Schriftsteller stellt die Fragen gleich selbst: «Warum schreibe ich?» Ausgangspunkt sei bei ihm jeweils ein Thema, mit dem er sich beschäftige. «Ich gehöre nicht zu jenen, die um des Schreibens willen schreiben.» Texte und Geschichten wüchsen, während er sich in einen Stoff vertiefe, Dinge erforsche. «Wenn die Struktur geklärt ist, schreibt sich der Text fast von allein, dann erzählt sich alles aus der Sprache heraus.» Dabei sei der Prozess eine Reise, von Überraschungen, mannigfaltigen Emotionen begleitet. «Manchmal lachte ich beim Lesen der eigenen Sätze, manchmal war ich auch unzufrieden.»

Auf die Frage, welche Rolle für ihn die Arbeit an der Sprache selbst einnehme, erzählt er: «Ich habe eine Mentorin für mich gewinnen können, die am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel Lektorats- und Mentoratsangebote macht.» Als Lehrer sei er in einer formalistischen, grammatikalisch korrekten Sprache zuhause. «Literarisches Schreiben ist aber etwas ganz anderes. Mit ihrer Hilfe konnte ich mein literarisches Schaffen entwickeln.» Trotz seines würdigen Alters steht Martin Rieder als Schriftsteller in voller Blüte – auf seinem Tisch stapeln sich Bücher und Notizen. Ob er bereits einen neuen Roman schreibe? «Ich bin dabei, Stoffe und Ideen zu ordnen. Noch braucht es Zeit, aber es kommt ziemlich sicher etwas.»

 

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Den jetzigen Bundespräsidenten Alain Berset. Er ist eine herausragende Persönlichkeit, ein Staatsmann und er muss eine musikalische Seite haben.

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Laufen und Bewegung im Wald.

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Leute, die nicht wahrhaben wollen. Also Sturheit und Ignoranz.

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